Samstag, 23. Oktober 2010

Die Geschichte mit der Maus

Niemand hatte damit gerechnet, schon gar nicht das Ehepaar Jörg Erich Sorgenfrey und Rommy Schneider selbst. Aber so war es gewesen. Die erste wirklich ernsthafte Auseinandersetzung in der Ehe der Beiden wurde durch eine Maus ausgelöst. Die Ursache für dieses kleine Erdbeben lag allerdings tiefer. Und Erdbeben haben ja bekanntlich die Eigenschaft, dass sie nur schwer vorhersagbar und schon gar nicht berechenbar sind.


Das junge Paar hatte sich den ersten gemeinsamen Traum realisiert und ein Eigenheim auf dem Lande gebaut. Weil es wie den meisten jungen Leute auch diesen Beiden am nötigen Kleingeld fehlte, war der Posten 'Eigenleistung' ziemlich groß geworden. Die zwei jungen Leute schufteten Tag und Nacht, wie man so schön sagt. In Strömen floss der Schweiß, und ja, auch ein paar Tränen. Natürlich war auch so manche Freudenträne dabei, wenn man endlich wieder mal ein Teilziel erreicht hatte oder der schon abgelehnt geglaubte Kredit doch genehmigt worden war. Auch Blut floss. Allerdings in Maßen, wenn der Hammer sein Ziel verfehlte oder das Teppichmesser wie von alleine seine Richtung änderte.

Trotz all dieser Widrigkeiten konnte der Termin des Einzugs gehalten werden, auch wenn Vieles noch nicht fertig war. Eigentlich gab es auch keine Alternative zu diesem Datum, denn die alte Wohnung war gekündigt worden und musste pünktlich geräumt werden.
Jörg Erich und Rommy waren keine anspruchsvollen Leute und so war man in die vier eigenen Wände eingezogen. Auch wenn aus diesen Wänden überall noch die Isolationsmatten herausschauten, von fehlenden Bodenleisten ganz zu schweigen. Bei der Formulierung 'eigene vier Wände' lag die Betonung klar auf dem Begriff 'eigene'. Und schließlich war das Schlafzimmer ja so gut wie fertig.

Die ersten Nächte im neuen Ehebett des neuen Schlafzimmers vom neuen Haus verliefen harmonisch. Die romantischen Anwandlungen des nimmermüden Jörg Erich und das nüchterne, auf den nächsten Tag vorausschauende Denken von Rommy konnte das frisch verliebte Paar gut mit den beiderseitigen Erfordernissen in Einklang bringen. Bis zu dieser einen Nacht, da es mit der Ruhe, aber vor allem mit der Harmonie auf einen Schlag vorbei war.

Wie eine riesige weiße Scheibe schob sich der Vollmond über den Hügel, machte die Nacht fast zum Tag und lies Rommy nicht in den Schlaf fallen, denn er schien ihr durch das Schlafzimmerfenster direkt ins Gesicht. Jörg Erich hatte sich eine leichte Erkältung zugezogen und zersägte die noch von der frischen Farbe geschwängerte Luft. Auch dieser Umstand war für Rommy beim Einschlafen keine Hilfe. Als dann noch ein Käuzchen zu rufen begann, war sie hellwach. Dass es ein Käuzchen war, wusste sie, weil es ihr Jörg Erich erklärt hatte. Aber weil der Vogel nicht aufhörte zu rufen, kam ihr diese schauerliche Geschichte aus dem Kinderbuch in den Sinn, die ihr schon beim Lesen nicht ganz geheuer vorgekommen war. Das Buch hatte Rommy von ihrer besten Freundin geschenkt bekommen , versehen mit der Bemerkung, dass man nach fünf Ehejahren auch mal ans Kinderkriegen und nicht nur immer ans Arbeiten denken sollte. Nachdem Rommy das Buch zu Ende gelesen hatte, war in ihr der Entschluss gereift, dass in ihrer Familie die ersten Kinderbücher in englischer Sprache sein würden. Nicht nur weil sie als Kanadierin sowieso in ihrer Muttersprache reden würde, so sie denn dereinst einmal Kinder haben würden

Rommy war gerade im Halbschlaf angekommen, als das Käuzchen wieder mit seinen klagenden Rufen begann. Diesmal deutlich lauter noch als vorher. Der Vogel schien ganz in der Nähe zu sein. Auch der Mond schien noch heller geworden zu sein, die Schatten an der Wand noch länger. Und die frisch gepflanzte Fichtenhecke vor dem Fenster sah plötzlich aus wie eine zum Appell angetretene Kompanie.

Was aber Rommy wie eine Feder in die Sitzposition hochschnellen lies, war dieses plötzlich einsetzende Pfeifen. Eigentlich war es mehr ein Quietschen. Das kannte sie noch von Kanada her. Es war eine Maus. Ganz eindeutig eine Maus. Die Winter in Kanada sind hart, besonders auf der Prärie. Da zieht es die Mäuse mit Macht in die warmen Behausungen der Menschen. Der Kampf gegen die frechen, aber possierlichen Tierchen gehörte also fest zu Rommys Kindheitserinnerungen. In ihrem Inneren fand eine Wandlung statt. Eine unbestimmte Furcht hatte sie überfallen gehabt und sie einfach nicht in den Schlaf fallen lassen. Davon war jetzt nichts mehr zu spüren. In Rommy machte sich Ärger breit. Sehr breit. So breit, dass sie ihren tief schlafenden Gatten heftig an der Schulter rüttelte.

Einem archaischen Trieb folgend ging der sofort in Kampfposition, noch bevor er die Lage auch nur annähernd erfasst hatte. Bereit, seine geliebte Gattin gegen alles und jeden zu verteidigen. Als Jörg Erich so richtig wach war und die Sachlage genügend erfasst hatte, begab er sich sogleich unter das Bett. Dort stellte er fest, dass sich unter dem Ehebett keine Maus befand. Da er inzwischen ebenfalls natürlich hell wach war, kam in ihm der kleine Junge wieder hoch. Er kroch unter dem ganzen Bett hindurch, um auf Rommys Seite wieder aufzutauchen. Als er dann eine Maus, genauer gesagt einen Mäuserich imitierte und an Rommys Fußsohle zu knabbern begann, bekam er einen derart starken Tritt auf die Nase, dass auch Jörg Erich von einer Sekunde auf die andere die Sache nicht mehr lustig fand.

Die Beiden drehten einander den Rücken zu und jeder für sich versuchte einzuschlafen, ohne dass noch ein Wort fiel. Die Zeit verging. Im Haus war alles ruhig. Das einzige Geräusch bildete das leise Ratzen von Jörg Erich, denn bei ihm waren die Schlafgeister zurückgekehrt. Nicht so bei Rommy Schneider. Mäuse in ihrem Haus! Das konnte sie nicht hinnehmen. Eigentlich war sie durchaus tierliebend. Jörg Erich nannte sie zwar manchmal etwas abfällig 'Mein Citygirl' und behauptete, sie würde eigentlich nur Hunde und Katzen lieben. Aber das war schlichtweg falsch. Auch diesen kleinen possierlichen Nagern konnte Rommy durchaus etwas abgewinnen, sofern sie nicht die Wohnung mit ihr teilen wollten. Und Frauen, die aus Angst vor einer Maus kreischend auf einen Stuhl sprangen, fand sie schlicht hysterisch. Nein, so war Rommy nicht! Aber dieses neue Haus gehörte ihr. Sie war ganz und gar nicht bereit, dieses schöne neue Domizil mit frechen Mäusen zu teilen. Wo es doch in Deutschland auch im Winter nicht annähernd so kalt war, wie in ihrer Heimat, kam ihr noch in den Sinn, bevor sie wieder in den Schlaf glitt oder besser gleiten wollte. Denn genau in diesem Augenblick begann das Quietschen erneut. Diesmal mehr von der Türöffnung her. Türen hatten sie noch nicht im Haus. Die Lieferung war erst für nächste Woche avisiert.

Wieder rüttelte Rommy Schneider an der Schulter ihres Gatten. Der erfasste zwar die Situation diesmal deutlich schneller, machte aber den ersten großen Fehler dieses Tages, genauer dieser Nacht. Er belehrte nämlich seine Frau, dass sie hier schließlich auf dem Land seien. Und außerdem seien Mäuse nicht schädlich, fügte er noch hinzu. Rommys kurze und spitze Antwort lautete: Das müsse er ihr nicht sagen. Sie hätte schließlich im Biologieunterricht eine Eins gehabt.

Wieder breitete sich die Ruhe der Nacht aus. Eine trügerische Ruhe, wie sich zeigen sollte. Die Atmosphäre war jetzt nicht nur mehr von frischer Lackfarbe verpestet, sondern auch von bösen Worten. Die Stimmung war so gereizt, das beide keinen Schlaf fanden. Jeder starrte wütend an einen imaginären Punkt in der Dunkelheit. Keiner von beiden war bereit, ein erstes Wort der Versöhnung an den anderen zu richten.

So vergingen Minuten. Vielleicht sogar eine Stunde. Da setzte das Quietschen erneut ein. Und wieder genau unterm Bett. Diesmal hatte es auch Jörg Erich vernommen. Es war nicht zu überhören gewesen. Laut und mit sehr hoher Stimmlage sagte Rommy Schneider den Satz: "Ich glaube, unterm Bett quietscht eine Maus." Es folgten ein paar Sekunden Schweigen. Dann presste Jörg Erich wütend den Satz heraus: "Soll ich sie vielleicht ölen!?!" Dieser Satz markierte das Ende der Nacht. Zumindest der gemeinsamen Nacht. Ohne ein weiteres Wort schnappte sich Rommy ihre Bettdecke und zog sich in das halb fertige Kinderzimmer zurück.

Ersparen wir uns die weiteren Einzelheiten dieser Nacht und machen einen kleinen Zeitensprung. Herr Sorgenfrey war den einzig möglichen Weg gegangen, um seine Rommy zu beruhigen. Er hatte gehandelt. Da sie in einem Holzhaus lebten, hatte er sorgfältig die gesamte Außenschalung des Hauses mit feinem Maschendraht abgedichtet. Er hatte sich wirklich angestrengt und sorgfältig gearbeitet. Jedes noch so kleine Loch hatte er aufgespürt und es verstopft. Als er nach ein paar Tagen feststellen musste, dass immer noch eine Maus im Haus war, hatte er sich nicht mehr anders zu helfen gewusst, als Gift einzusetzen. Natürlich hatte er Rommy davon nichts erzählt. Oben im Speicher hinter den restlichen Dachziegeln hatte er es versteckt. Rommy würde dort garantiert nicht hinschauen, aber die Maus würde es finden. Da war er sich sicher. Jörg Erich war beruhigt. Für ihn war das Thema aus der Welt. Dass der große Eklat erst noch bevor stand, ahnte Herr Sorgenfrey in diesem Moment noch nicht.

Etwa eine Woche später kam Herr Sorgenfrey gut gelaunt vom Dienst nach Hause. Was übrigens eher selten passierte. Mit Hunger im Herzen (nach Rommy) und Hunger im Magen (nach der von Rommy geheimnisvoll per Telefon angekündigten Spezialität) trat Herr Sorgenfrey über die Schwelle seines Hauses. Rommy empfing ihn stürmisch und gab ihm einen dicken Kuss auf den Mund. Wieder zu Luft gekommen konnte Jörg Erich an den blitzenden Augen seiner Gattin vorbei auf dem Esstisch die Umrisse einer Käseglocke erkennen.

Mit Rommy auf den Fersen strebte Herr Sorgenfrey in freudiger Erwartung auf den Esstisch zu. Die Flasche Rotwein neben der Käseglocke hatte er bereits dankbar registriert. Aber was war das unter dem Glas? Das Etwas bewegte sich. Welche Speise außer Pudding war beweglich? Aber das hier war kein Pudding. Was sich da in dieser schön verzierten Glasglocke auf edlem Importholz bewegte, war eine Maus. Die gemeine graue Hausmaus mit dem lateinischen Namen Mus musculus forma domestica. Und dieses Exemplar bewegte sich noch, wenn auch langsam.

Während Rommy noch freudestrahlend und begeistert von ihrer Jagdmethode und ihrem Jagderfolg erzählte, rang Herr Sorgenfrey angestrengt um Fassung und versuchte verzweifelt diesen offensichtlich falschen Film, in dem er sich da befand, zu verlassen. Als Rommy ihrerseits erkannte, wie sehr sie ihren Liebsten mit der Aussicht auf dieses Abendessen schockiert hatte, nahm sie den verwirrten Jörg Erich sanft bei der Hand, öffnete die Küchentür und anschließend auch noch die Tür zum Backofen. Dort brutzelte ein schon goldbraun gebackenes Hähnchen, das nur noch darauf wartete, serviert zu werden. Herr Sorgenfrey fühlte sich ganz langsam wieder besser. Jetzt konnte er auch den verführerischen Duft zuordnen, der ihm schon auf dem Weg von der Garage zur Haustür entgegen geschlagen war.

Machen wir es kurz. Es wurde ein schönes, versöhnliches Abendessen. Gefeiert wurde die letzte Maus im Hause Sorgenfrey/Schneider. Dass Rommy Jörg Erich noch darum bat, später am Abend auf seiner Fahrt zur Vereinssitzung die Maus doch bitte auf dem Wege dorthin in die Freiheit zu entlassen, war für Herrn Sorgenfrey zwar schon wieder unverständlich, aber ein selbstverständlicher Liebesdienst für seine geliebte Gattin.


Jorge D.R.


( Diese Geschichte ist im Rahmen von Donnas Schreibwerkstatt entstanden. )

9 Kommentare:

  1. Schön zu lesende Maus-Geschichte ;)

    Dabei hatte ich eine wunderbare Idee, meine Geschichte weiterzuführen ;),
    schreibe sie nämlich gerade ;)

    Danke lieber Jorge!

    Viel Freude beim Lesen!

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  2. Erleichterung!
    Mäusefrieden im Hause Sorgenfrey/Schneider!

    Eine sehr vergnügliche Geschichte ist dir da flott aus der Feder geflossen - so richtig schön zum Schmunzeln.

    Danke, Jorge, für die Geschichte!

    Liebe Grüße auch an das Ehepaar Sorgenfrey/Schneider

    Donna

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  3. Soll ich sie ölen... Da lag ich auf dem Boden.
    Eine sehr nachvollziebare, amüsante Geschichte.
    Und wenn der erste Ehekrach einer Maus geschuldet ist, dann kann ja auch nicht mehr viel erschüttern. ;-)

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  4. Wie eine Maus doch den Ehefrieden bedenklich ins Wanken bringen kann...

    Aber im Ernst: Die Geschichte ist amüsant und flott erzählt.

    Gruss, Brigitte

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  5. **schmunzel*** Sehr vergnüglich, das Ganze. Aus dem Leben gegriffen (ich wette). Denn die besten Geschichte schreibt eh das Leben. Man muss sie allerdings wiedergeben können. Und das ist dir hier wieder ausgezeichnet gelungen.

    Vielen Dank.

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  6. Die Namen des Paares haben mich sehr amüsiert ☺
    Traum und Wirkliches schön gemischt, lieber Jorge!

    Die geölte Maus ist Dir gelungen und die ganze, gesamte Geschichte natürlich auch, wobei ich sagen muß, bei Mäusen in der Wohnung gerate ich auch in Panik (Spinnen nehme ich auf die Hand) und bin keinem vernünftigen Argument mehr zugänglich. Eine Maus in einer Käseglocke würde ich aber NIE servieren. Diese Idee hast Du mit keiner Frau abgestimmt ☺.
    Lieber Gruß von Bruni

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  7. ich war vorhin schon mal auf deiner seite.
    ich lese so lange geschichten nicht gerne, jorge, verzeih.
    aber sie scheint ja gut ausgegangen zu sein. ich verstehe sowieso dieses getue um eine maus nicht.

    danke für deinen besuch auf meiner seite.
    und in der schönen landschaft haben sich die mäuse wohl schon in ihr winterquartier zurückgezogen. in diesem jahr gab es unwahrscheinlich viele.

    einen schönen tag
    rosadora

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  8. Oh wie schööön

    wunderbar geschrieben und dokumentiert

    mit einem lächeln auf den lippen hab ich gelesen was dir hier zu dem Anfangssatz eingefallen ist und ich möchte sagen es ist einfach zu köstlich.
    So mitten aus dem Leben gegriffen würden mir auch einige solcher Geschichtchen einfallen.

    Ich finds einfach toll

    Danke fürs teilhaben dürfen

    Hier noch eine Ladung Sternenstaub für dich ******

    Sterntalerchen

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