Dienstag, 3. Juli 2012

Begegnungen

Jonas hat ein Problem
(Eine Begegnung in Chile)

"Grüne Hölle", fährt es mir durch den Kopf. Nichts als sattes Grün um uns herum. Nur direkt über der Fahrbahn ist ein graues Blau auszumachen, das man als Himmel bezeichnen könnte. Ach ja - und es regnet. Klar regnet es, auch wenn es im Moment nur ein leichtes Nieseln ist.


Nirgendwo auf der Erde regnet es so viel wie in dieser gottverlassenen Weltgegend. Unser Reiseführer belehrt uns, dass es sich hier um den größten kalten Regenwald der Erde handelt. Kalter Regenwald deshalb, weil er sich nicht in den Tropen befindet, sondern in einer gemäßigten Zone.

Wir sind tief im Süden Chiles und fahren auf der Carretera Austral, der Straße in die Einsamkeit. Für viele Reisende ist dieses vier Meter breite und zirka 1500 Kilometer lange Kiesband eine der Traumstraßen der Welt. Mit Sicherheit ist die Carretera Austral aber neben der Ruta 40 in Argentinien eine der legendärsten Straßen Südamerikas. Sie führt durch eine großartige Natur aus Bergen, Seen, Fjorden, Gletschern und wird damit zum Magnet für Weltenbummler und andere verrückte Leute aus allen Teilen der Erde.

Um uns herum steile, dicht bewachsene Berghänge, von denen wir im Moment aber jeweils nur den unteren Teil sehen. Riesenfarne ragen weit in die Straße hinein und zwingen mich vor jeder Kurve mit dem Tempo noch mehr herunterzugehen, um ausweichen zu können - sollte doch einmal Gegenverkehr kommen. Aber das war in der letzten Stunde nicht mehr der Fall.

Sehr beeindruckt uns auch der Riesenrabarber, von den Chilenen Nalca genannt. Die haarigen Stengel kann man essen, heißt es. Probieren wollen wir das lieber nicht. Aber als Regenschirm sind die gewaltigen Blätter gut geeignet.

Bevor ihr diese Erzählung mit einem Erdkundebuch verwechselt, aber zurück zur Straße. Die ist nämlich mit einem Schlag besser geworden. Eine feine Schicht gepressten Sandes liegt jetzt über dem Kies und macht das Fahren zum Vergnügen. Man merkt der Straße an, dass sie regelmäßig gepflegt wird.

Richtig wundern tut uns das nicht, denn das große Schild, an dem wir Halt machen, belehrt uns, dass wir soeben im Pumalin Park eingetroffen sind. Wir lesen weiter und erfahren, dass hier ein reicher Amerikaner riesige Ländereien aufgekauft hat, um sie vor Menschenhand zu schützen und sie ganz der Natur zu überlassen. Wir werden die nächsten Tage mehrfach feststellen können, dass ihm das sehr gut gelungen ist.

Wenn der Himmel aufreißen würde, dann könnten wir endlich diese Berge bewundern! Aber der Regen ist zurück und es gießt mehr oder weniger wie aus Kübeln. Die Fahrbahn verläuft im Moment zwar schnurgeradeaus, aber in starken Wellen, so dass manchmal der Horizont ziemlich weit nach oben rutscht.

Ganz in der Ferne mache ich einen schwarzen Fleck aus, der gemeinsam mit dem Horizont immer auf und ab zu springen scheint. Je näher wir diesem Punkt kommen, umso mehr Rätsel gibt er uns auf. Weil ich wegen des starken Regens sehr langsam fahre, bleiben uns Minuten, in denen wir beide phantasiereiche Theorien entwickeln, was dieses inzwischen größer gewordene Etwas wohl bedeuten könnte.

Was wir jetzt vor uns sehen, kam uns beiden nicht in den Sinn. Ein Wanderer mit Rucksack, Regenumhang und Gummistiefeln auf der Carretera Austral. Ich kurble die Scheibe herunter und schaue in das freundliche Gesicht eines jungen Mannes. Von seiner Kappe tropft der Regen, von den buschigen Augenbrauen rinnt der Schweiß.

"Grüß Gott", tönt es mir entgegen. Noch immer bin ich sprachlos. Wir sind in Südamerika. Weit im Süden. Am Ende der Welt. Seit hundert Kilometer herrscht Einsamkeit - ohne ein Fahrzeug oder gar einen Fußgänger. Seit Stunden ein absolut mistiges Wetter. Und jetzt dieser junge Kerl hier, der auch noch "Grüß Gott" sagt.

Wer in diesem Alter sagt denn in Deutschland noch "Grüß Gott". Selbst in Bayern muss man für einen solchen Gruß doch etwas älter sein, oder nicht?! Da ich vor Staunen immer noch nicht weiß, was ich sagen soll, fährt er fort: "Aus Deutschland! Mit einem deutschen Nummernschild! Das sieht man selten."

Seine Worte lösen mir die Zunge. "Und so was wie dich sieht man auch nicht oft." entfährt es mir. Bei einem derartigen Altersunterschied falle ich immer quasi automatisch ins Du. Aber der junge Mann nimmt mir das nicht übel. Im Gegenteil. Seine Brust scheint unter dem schweren Regenumhang noch etwas breiter zu werden.

In den Alerce Wald will er. Das ist auch unser Ziel. Wir bieten an, ihn bis zum Campingplatz mitzunehmen. Der ist nicht mehr weit. Aber der Herr hat seine Prinzipien. Dankend lehnt er ab. Sein Vorsatz ist, die Carretera zu laufen. Und da wolle er nicht mogeln. Langsam fahre ich an. "Bis bald!", klingt es uns nach. Schnell schließe ich das Fenster. Mein linkes Hosenbein ist inzwischen durchnässt.

Der Campingplatz, direkt am Fluss gelegen, ist schlicht, aber sauber. Nicht ohne Grund gibt es zu jedem Zeltplatz eine überdachte Kochecke. Wie sollte man sonst auch kochen, wenn es vierundzwanzig Stunden regnet.

Schnell sind wir uns einig, unsere neue Bekanntschaft zum Abendessen einzuladen. Während ich noch dabei bin, den Wagen einigermaßen in die Waagrechte zu bringen, was bei dem unebenen Gelände gar nicht so einfach ist, fängt meine Frau schon mit den Vorbereitungen an. "Eine Stunde braucht er sicher bis hierher. Das brauche ich auch zum Kochen.", sinniert sie laut. "Wenn du mir endlich hilfst" fügt sie noch an.

Die Chefköchin und ihr Chefassistent kommen mit der Zubereitung des Abendessens gut voran. Die Kartoffeln brauchen noch zehn Minuten, da biegt Jonas um die Ecke. So heißt der junge Mann. Einunddreißig Jahre alt und im Moment ziemlich erschöpft.

Aber wie das mit der Jugend so ist, als ich nach dreimaligem Anpieksen entscheide, dass die Kartoffeln gar sind, sitzt Jonas schon am Tisch. Der Heißhunger ist ihm ins Gesicht geschrieben. Es kann losgehen.

Wieder staunen wir über die heutige Jugend. Unglaublich, wie schnell der Kerl seinen Teller leer hat. Meine Frau freut es. Nachdem ich festgestellt habe, dass auch für mich noch genug da ist, freut es mich ebenfalls.

Da die Rotweinflasche innerhalb einer halben Stunde auch leer ist, kann ich es mir nicht verkneifen, dem jungen Herrn einen kleinen Vortrag über die außergewöhnliche Qualität dieses edlen Saftes zu halten. Meinen Hinweis auf den Preis stoppt meine Angetraute mit der Frage: "Schatz, willst du die andere Flasche nicht auch noch holen?"

"Die trinken wir aber am Lagerfeuer", entgegne ich. Alle sind einverstanden. Der Regen hat aufgehört. Das Wetter ist richtig schön geworden. Erstaunlich, wie hell es um diese Uhrzeit noch ist auf soweit südlicher Breite.

"Das Feuer machen übernehme ich", verkündet Jonas. Ihn hat der Ehrgeiz gepackt. Als wolle er uns zeigen, was er bei den Pfadfindern so alles gelernt hat.

Denn dass er bei den Pfadfindern war, wissen wir bereits von ihm. Jonas hat nämlich eine Freundin, die auf den schönen Namen Lea hört. Und die hat er bei den Pfadfindern kennen gelernt. Mehr wissen wir nicht. Denn als er uns das erzählte, wurde sein Gesicht mit einem Schlag sehr ernst, und er brach abrupt ab.

Jonas hat wirklich Talent zum Feuermachen und trotz des feuchten Holzes dauert es nicht lange, bis die ersten Flämmchen nach oben züngeln. Ich habe mit leichtem Missmut die zweite Flasche unseres phantastischen Cabernet Sauvignons geöffnet und reihum frisch eingeschenkt.

Der Wein löst Jonas Zunge. Er beginnt zu sprudeln und zu schwärmen über seinen Lauf durch Südamerika. Zwei Jahre hat er geplant. Dann bot sich die ultimative Gelegenheit für Jonas, seinen Traum zu verwirklichen.

Er hatte sich als Lehrlingsausbilder bei einer großen Firma beworben. Trotz der zahlreichen Bewerber-Konkurrenz hatte er den Posten bekommen. In einem halben Jahr sollte es losgehen. Es blieben also etwa fünf Monate, um den Traum "Südamerika" endlich zu realisieren.

Es gab aber zwei Probleme, ein kleines und ein großes. Seine derzeitige Firma musste ihn mehr oder minder von einem Tag zum nächsten gehen lassen. - Und die taten das auch.

"OK, pack dein Zeug und hau ab", hatte der Chef geflachst. "Haben im Moment ja sowieso nicht viel zu tun", hatte er noch angefügt. Jonas wusste, dass der alte Herr ihn mochte. All die Jahre war er so etwas wie ein "Sohn-Ersatz" für den Chef gewesen und deshalb hatte Jonas ihn auch in seine Pläne eingeweiht. So nahm er noch am selbigen Tag seinen Resturlaub, packte seine wenigen Sachen in eine Sporttasche und weg war er.

Das zweite Problem war größer, schwieriger, härter. Das zweite Problem war unlösbar gewesen. Es hieß Lea.

Das bisher so offene Gesicht von Jonas verdunkelt sich. Das freundliche Lächeln weicht einer ernsten, um nicht zu sagen traurigen Miene. "Du musst nichts erzählen, wenn es dir nicht danach ist", versucht meine Frau ihn zu trösten.

Statt ihr zu antworten, zieht Jonas seinen Geldbeutel aus der Hosentasche und kramt aus diesem das zerknitterte Bild eines hübschen Mädchens. "Das ist Lea" sagt er, und seine Stimme vibriert leicht.

Mit ihrem magischen Blick zwingt mich meine Frau zum Schweigen. So ist für Minuten nur das Knacken und Krachen des Brettes aus echter Schwarzwaldtanne zu hören, welches ich seit Monaten mit uns herum schleppe und jetzt endlich entsorge.

Dann beginnt Jonas zu erzählen. Nein, Lea ist nicht bei den Pfadfindern. Aber heute vor genau drei Monaten war sie zu der Disko gekommen, die die Pfadfinder im alten Steinbruch ihres Dorfes veranstaltet hatten. Bei beiden hatte es sofort gefunkt. Und wie!

Wann immer sie konnten, waren sie ab jetzt zusammen. Klar, dass Jonas auf Lea einredete, mit ihm nach Südamerika zu kommen. Aber Lea konnte nicht oder wollte nicht. So genau war das für ihn nicht auszumachen.

Zeitlich wäre es durchaus machbar gewesen. Leas Freundin hatte sich bereit erklärt, ein paar Monate im Kindergarten für sie einzuspringen. Aber da war das liebe Geld, welches Lea nicht hatte. Jonas Angebot, ihr die Reise zu finanzieren, hatte Lea kategorisch abgelehnt.

Das Haupthindernis jedoch -jedenfalls aus Jonas Sicht- war die Oma, bei der Lea lebte, seit ihre Mutter gestorben war. Lea liebte ihre Oma und wollte die alte Dame auf keinen Fall in dem großen Haus so lange allein lassen, obwohl die Frau noch absolut fit war und gut ein paar Wochen hätte allein verbringen können. Das fand jedenfalls Jonas.

Jonas dachte sogar daran, seine Pläne aufzugeben und zu Hause zu bleiben. Aber dagegen war Lea genauso kategorisch gewesen. "All die Planung, all die Vorfreude sollte umsonst gewesen sein?", hatte Lea gefragt. Das teure Flugticket hatte er auch schon vor einem halben Jahr gekauft und damals einen Sonderpreis bekommen. Es war "non-refundable", also nicht stornierbar.

Außerdem gab es jetzt dieses große Zeitfenster in Jonas Berufsweg. Wann würde sich eine derartige Gelegenheit nochmals bieten, hatte Lea noch angefügt. Und vielleicht würde er in Südamerika ein noch tolleres Mädchen als sie finden. Der letzte Satz hatte ihm richtig wehgetan.

Jonas war gegangen. Er hatte Mühe gehabt, seine Tränen zu unterdrücken. Das war eine andere Lea, als die, die er zu kennen glaubte.

Und jetzt sitz der sichtlich liebeskranke junge Mann hier mit uns irgendwo in den südamerikanischen Anden. Ein Häufchen Elend am langsam erlöschenden Lagerfeuer, das leere Weinglas in der Hand hin und her schiebend, tief in sich versunken. Jonas bringt auch uns ins Grübeln.

Auf meine ziemlich hilflose Frage, ob er denn Lea nicht mal angerufen habe, erhalte ich die Antwort: "Nein." Stockend redet er weiter.

Sein Handy hatte Jonas nicht mit nach Südamerika mitgenommen. Die Roaming-Gebühren waren ihm einfach zu teuer gewesen. Außerdem wäre jedes Telefonat mit Lea wie Salz in eine offene Wunde streuen.

Die Geschichte von Jonas schlägt uns derart in ihren Bann, dass wir beide Mühe haben einzuschlafen. Gerade war Morpheus dabei, mich sanft in seine Arme zu schließen, als ich durch ein heftiges Schütteln an meiner Schulter unsanft in den alten Tag zurückholt werde.

"Ich habe die Lösung", verkündet meine Frau aufgeregt und sitzt dabei kerzengerade im Bett. Offensichtlich ist sie entweder immer noch oder schon wieder hellwach.

"Lösung wofür?", frage ich schlaftrunken. "Na - für das Problem von Jonas natürlich!" "Morgen nach dem Frühstück soll er einfach Lea anrufen", verkündet sie triumphierend, als hätte sie soeben den Stein der Weisen entdeckt. "Und wie?", frage ich immer noch nicht ganz wach zurück.

"Na mit unserem Satelittentelefon" erklärt sie ungeduldig. Und ihre Tonlage duldet dabei keinen Widerspruch.

"Aber das haben wir doch nur für Notfälle und nicht für Liebesgeflüster, oder hast du etwa den Preis pro Minute vergessen?", werfe ich trotzig ein und komme mir dabei nicht sehr überzeugend vor.

"Ach du! Du bist unromantisch und außerdem geizig!", ist ihre Antwort. Sie sagt das mit einer Mimik, aus der ich schließe, dass für sie die Sache klar ist. Wenig später höre ich das leise Ratzen meiner Holden, das mir so vertraut ist und das ich so liebe. Aber diesmal nagt ihr "Du bist unromantisch" an meinem Selbstverständnis. Es dauert eine ganze Weile, bis auch ich einschlafe.

Heute Morgen scheinen wir einen der zehn Sonnentage, die es in dieser Weltgegend pro Jahr gibt, erwischt zu haben. Auch Jonas hat offensichtlich seine Fröhlichkeit zurückgefunden. Diesmal hat er uns zum Frühstückskaffee eingeladen. Wir müssen zwar Stuhl und Kaffeetasse selber mitbringen, aber das ist ja bei den Campern so üblich.

Der Kaffee duftet herrlich. Aber er ist noch zu heiß. Ich hebe meine Tasse gerade zum zweiten Mal probehalber an die Lippen, als meine Frau zu einer Ansprache ansetzt. Dies hat absoluten Seltenheitswert, denn die Reden halte bei uns ich.

"Lieber Jonas, ich behandle dich jetzt wie meinen Sohn. Schließlich bist du ja genauso alt wie er. Und ich sage dir, du rufst jetzt sofort deine Lea an.", höre ich meine Frau sagen. Sie wirkt dabei sehr resolut. Jedenfalls auf mich. Dann greift sie hinter sich in den Beutel an ihrer Stuhllehne und zieht unser Satellitentelefon heraus.

Auf dem Gesicht von Jonas läuft ein Feuerwerk von Gefühlen ab: Überraschung, Erstaunen, Freude, Abwehr. "Das kann ich nicht annehmen", kommt es zaghaft über seine Lippen. In der gleichen Tonlage, die keinen Widerspruch duldet, fährt meine Frau fort: "Wir zwei Alten wandern jetzt ein bisschen zum Fluss runter und du telefonierst! In Deutschland ist jetzt Kaffeezeit. Da wird die Oma sicher zu Hause sein." erklärt meine Frau. Für mich klingt es, als würde sie sich ganz genau in den dortigen Familienverhältnissen auskennen.

Schon sind wir auf dem Weg zum Fluss. "Nicht mal seinen Kaffee kann man in Ruhe trinken!", murmel ich vor mich hin. Irgendwie kommt es mir vor, als sei ich im falschen Film. Vom Regenwald direkt in die Seifenoper. Die Hauptakteure: Meine Frau und ein junger Mann. Im Moment bin ich ganz klar zum willfährigen Befehlsempfänger degradiert.

Als wir zurückkommen, ist Jonas ganz aufgeregt. Die Sätze kommen abgehackt aus seinem Mund. Wir erfahren:

Am Telefon war die Schwester der Oma gewesen, 14 Jahre jünger wie diese. Lea hat mit ihrem Auto die Oma gerade zur Therapie gebracht. Oma war gestürzt, hatte sich einen Oberschenkelhalsbruch zugezogen und drei Wochen im Krankenhaus verbringen müssen, aus dem sie erst seit vier Tagen wieder draußen ist.

Helga, die Schwester, seit einem halben Jahr pensioniert, war kurz entschlossen mit in das große Haus gezogen. Jetzt wohnen die drei Damen unter einem Dach und vertragen sich bestens. So jedenfalls die Information von Helga, die Jonas nur von Erzählungen kennt.

Der Wortschwall von Jonas scheint zu Ende zu sein. Seine Schultern hängen herab. Der Blick geht ins Leere. "Und jetzt? Was ist jetzt?", fragt meine Frau mit ungeduldiger Neugier. Auch dies übrigens eine Eigenschaft, die sonst eher mir als meiner Frau nachgesagt wird.

"Es gäbe da noch ein Geheimnis", hebt Jonas wieder zu sprechen an. Das wollte Helga nicht verraten. Das wolle Lea ihm sicher selber erzählen, hatte sie vielsagend gemeint. Er solle in einer Stunde nochmals anrufen. Er wolle doch sicher auch mit Lea sprechen, hatte sie noch angefügt.

Mit Lea sprechen? Jonas ist sich nicht sicher, ob er das will. Er ist sich ganz und gar nicht sicher, ob das für ihn gut ist. Helga hatte so begeistert geklungen. Aber Helga ist nicht Lea. Was wusste Helga denn schon von ihm und Lea!

"Vielleicht würde er in Südamerika ein noch tolleres Mädchen als sie finden." Da war er wieder, dieser Satz in seinem Gehirn, klar und laut. Und da war auch wieder dieses Ziehen in der Magengegend, schmerzlich und stark.

"In einer Stunde rufst du an, Jonas!", höre ich meine Frau sagen. Für mich klingen diese Worte wie Einmischung. Bei Jonas rufen sie ein dankbares Lächeln hervor. "Wenn ich nochmal telefonieren darf", antwortet er zaghaft. "Aber bitte bleibt diesmal hier."

Erinnert ihr euch noch, wenn bei einem Open Air Konzertes am Schluss die alten Songs gespielt wurden? Erinnert ihr euch an das Gefühl, dass sich beim letzten Ohrwurm einstellte? Wenn tausend Kerzen brannten und der Vollmond noch dazu! Wenn dann die letzten Akkorde sich langsam in die laue Sommernacht auflösten? Wisst ihr das noch, wie ihr euch dann gefühlt habt?

Genau dieses Gefühl stellt sich jetzt bei meiner Frau und bei mir ein.

Jonas findet die Off-Taste am Telefon nicht, so abwesend ist er plötzlich. Wortlos reicht er das Ding meiner Frau.

Wie in Trance geht er ein paar Meter zurück. Dann macht er kehrt, stürmt auf meine Frau zu und hebt sie in die Luft. Lässt sie wieder los und fängt tierisch an zu schreien, wobei er ständig von einem Fuß auf den anderen springt. Ich kann nicht behaupten, dass mir das alles gefällt.

"Sie kommt!" - die zwei Worte wiederholt er immer wieder. "Sie kommt! Sie kommt!" Dann schaut er uns an und sagt leise: "Lea kommt." Als hätten wir nicht kapiert, wer SIE ist!

Langsam beruhigt sich Jonas etwas. Wir erfahren mehr. Nachdem Helga bei Leas Oma eingezogen war, hatten die beiden alten Damen sich offenbar über die Enkeltochter unterhalten. Nachdem sie beide feststellen mussten, das sich Lea mit jedem Tag mehr verschloss und ganz offensichtlich immer unglücklicher wurde, hatten sie ohne Leas Wissen kurzerhand ein Flugticket Frankfurt - Santiago de Chile gekauft. Nur Leas Freundin hatten sie vorher eingeweiht, um abzuklären, ob deren Angebot mit der Vertretung noch seine Gültigkeit hatte. Ja - das Angebot galt noch.

Lea kommt schon in drei Tagen! Wir beschließen, unsere Fahrtrichtung zu ändern und Jonas in die nächste große Stadt nach Norden zu bringen. Von dort geht ein Flieger nach Santiago.

Wir beiden Alten sind bester Laune fühlen uns richtig jung. Schließlich ist es ein tolles Gefühl, mitten in eine Lovestory zu geraten und am Glück eines eigentlich fremden Menschen mitschmieden zu dürfen.

Jorge D.R.

3 Kommentare:

  1. HimmeldieBerge!!!
    Das ist aber wirklich eine Lovestory!
    Hat der gute Jonas aber mächtig Glück gehabt, euch zu begegnen!! :-)

    Spitze!

    ..grüßt Monika

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  2. Hallo Jorge

    tolle Geschichte...ich habs sooo gerne gelesen

    und jetzt....

    sternenstaub und happy birthday für dich

    ich drück dich
    Sterntalerchen

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  3. Ich liebe love stories *seufz*
    Du hattest Geburtstag, lieber Jorge? Da möchte ich dir recht herzlich nachträglich gratulieren und trinke einen Quarenta y tres auf dich, diesen süßen und unwiederstehlichen spanischen Likör :-)

    Einen lieben Gruß,
    Anna-Lena

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