( Diese Geschichte ist im Rahmen von Donnas Schreibwerkstatt entstanden. )
El Chepe – der Zug, der in die Wolken fährt
Viel Zeit blieb nicht mehr. Schon in wenigen Stunden würden wir in einen fast zweitausend Meter tiefen Schlund blicken. Wir hatten vor, mit dem berühmtesten Zug Amerikas durch die einsame, knüppeltrockene und bizarre Wüstenlandschaft der Sierra Madre im Nordwesten von Mexiko zu fahren. Mit gezücktem Notizblock und gespitzten Bleistift warteten wir auf den Beginn des Abenteuers. Und hier ist die Geschichte, die dabei heraus kam.
Die Idee wird geboren
Weil unsere Freunde in Los Mochis von einem mexikanischen Pick-up gerammt werden, kommt alles ganz anders als geplant. Ein mexikanischer Arzt, der an der Straße wohnt, wo der Unfall geschah, hilft ihnen alles zu regeln. Bald ist der kleine Schaden behoben. Aber der Arzt kümmert sich weiter um uns. Wir kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Er lädt uns in seine Familie zu einer Erfrischung ein. Gemeinsam mit ihm besprechen wir die weitere Route. Er rät uns dringend davon ab, mit dem Auto durch den Canyon über Urique nach Creel zu fahren. Zu unsicher. Zu viele ‚Banditos’. Wir sollen lieber El Chepe nehmen. Das sei sicher und trotzdem spektakulär. Und so stehen wir am nächsten Morgen mit ein klein wenig Trauer im Herzen in El Fuerte am Bahnhof und warten auf diesen berühmten Zug, der uns nach Creel bringen soll.
Der Zug kommt
„Fährt der Zug in die Wolken, Mammi?“ fragt der kleine Piefke seine Mutter. Die bleichgesichtige Dame aus Texas ist gerade mit irgendeinem Spray beschäftigt. Stattdessen antwortet der Vater: „Nein so hoch fährt der nicht. Das ist ein mexikanischer Zug.“ Der Herr mit dem schicken Hemd und dem sehr schicken Hut dreht sich zu mir um und sagt: “War das nicht der Zug? Das Pfeifen meine ich!“ Ich starre die Schienentrasse hinunter, bis am Horizont Himmel und Erde die gleichen wüstenhaften Farben annehmen. Nur ein paar Büsche kann ich noch ausmachen. Mein wortloses Zucken mit der Schulter ist keine Unhöflichkeit. Es ist die Hitze, die mir jetzt schon zu schaffen macht. Wir sind in der Sierra Madre Occidental, die sich über die mexikanischen Bundesstaaten Sinola und Chihuahua erstreckt. Und das ist eine Gegend, in die man sich besser nicht ohne eine gut gefüllte Wasserflasche begibt. Wann dieser Zug genau kommen wird, wissen wir nicht. Das weiß nicht mal der dicke Herr mit der verschwitzten Uniform. Aber viel wichtiger ist ja auch das ständige Lächeln unter seinem kurzen Schnauzer. Übrigens - Platzkarten haben wir auch nicht. Zwei Wochen vorher reservieren, hatte uns die Dame am Schalter beschieden. Also wird das wohl nichts werden mit der spektakulären Talsicht. Aber wir haben jeder ein ‚Boleto’. Damit beruhigen wir uns fürs erste. Gerade hat in meinem Hirn die Melodie aus dem Wildwestfilm ‚Spiel mir das Lied vom Tod’ eingesetzt, da schreit der Knirps: „Mammi, der Zug kommt.“
Im Barwagen
Im Barwagen haben wir es uns gleich mal bequem gemacht. Tief kuscheln wir uns in die Clubsessel aus weichem Leder. Die Luft des klimatisierten Wagons prickelt angenehm auf der Haut und ein Cerveza kühlt von innen. Der Blick gleitet durch die leicht getönten Scheiben hinaus in die Ferne. Wir sind glücklich. Erster Klasse genießen wir eine der schönsten Zugreisen der Welt. So sagt es jedenfalls der bunte Flyer, den uns die Dame in Los Mochis zum Trost noch in die Hand gedrückt hatte. Ganz genau gesagt fahren wir im primera express der Ferrocarril Chihuahua al Pacífico. Der clase económica, also der Zug der zweiten Klasse, fährt ebenfalls von Tobolobambo, der Hafenstadt von Los Mochis die 673 Kilometer bis nach Chihuahua, aber zirka eine Stunde später. Außerdem hält er sozusagen „auf Kundenwunsch“ an (fast) jeder Stelle, während unser Zug auf die Touristen ausgerichtet ist und nur an wenigen ausgesuchten Stationen anhält. Durch 86 Tunnel und über 37 Brücken schraubt sich die Strecke bis auf 2400 m über Meeresniveau. Sie durchquert dabei eines der größten Schluchtensysteme Nordamerikas, die Barranca del Cobre oder Copper Canyon, wie die US-Amerikaner sagen. Bizarre Steinformationen, glasklare Seen und schwindelerregende Schluchten lassen uns abwechselnd den Hals recken oder tiefer in den Sessel sinken. Auf der mehrere Stunden währenden Reise lassen sich unterschiedliche Landschafts- und Vegetationsformen ausmachen. Jetzt Ende April können wir uns an den vielen Farben gar nicht satt sehen.
Auf der Plattform
Das Bierglas ist leer. Der Tequila getrunken. Die Wüste ruft. Schließlich können wir die Wildnis nicht immer nur hinter Glas betrachten. Also hinaus auf die Plattform, hinaus an die frische Luft! Aber so frisch ist die gar nicht. Heftiger Dieselgestank schlägt uns entgegen. Die Rüttelei verdoppelt und der Geräuschpegel verdreifacht sich. Aber irgendwie fühlen wir uns näher am wirklichen Leben. Die Szenerie ist einfach phantastisch. Gerade macht der Zug eine riesige Schleife. Meine Frau dreht ihre kanadische Schildmütze nach hinten und lehnt sich weit über die Blechtür, um den Zug mit der Kamera zu erfassen. Ihre langen Haare flattern im Fahrtwind. Ich blinzle in die Sonne. Die blaue Lok reflektiert die Sonnenstrahlen, während die letzten grün-orangefarbigen Wagen noch über die Stahlbrücke rattern. Irgendwie ist es wie im Film. Ein archaisches Gefühl. Ich halte meine Frau fest (damit sie nicht etwa aus dem Zug fällt!) und stelle mir vor, wie wir auf Pferden durch diese schroffe Wildnis reiten – auf der Suche nach Gold natürlich! Doch mein Traum geht abrupt zu Ende. Erstens fällt mir ein, dass die Gegend hier Kupfercanyon und nicht Goldcanyon heißt. Und dann löst sich meine Frau auch noch ziemlich bestimmt aus meinem Griff, um einen anderen Herrn genauer betrachten zu können. Er ist für einen Mexikaner hochgewachsen und hat ein sehr entschlossenes Gesicht. Es ist einer von der Securidad , ausgerüstet mit Sicherheitsweste und Sturmgewehr. Seit es vor ein paar Jahren einen Überfall auf den Zug gegeben hat, reisen Sicherheitsleute mit. Die Geschichte, die wir gehört haben, geht so: Nicht weit weg von der kleinen Stadt Creel wurde damals der Zug auf freier Strecke angehalten. Ein Tourist aus Europa hielt das ganze für eine Filmszene und drehte eifrig mit seiner Kamera. Das mochten die Banditen überhaupt nicht und erschossen ihn.
Unter Einheimischen
In Divisadero steigt jeder Tourist aus, um die Landschaft zu bewundern, sich unter die Einheimischen zu mischen, die Kamera zu testen und um etwas zu essen. Letzteres immer mit der Angst vor Montezumas Rache im Bauch. Wir wollen uns zunächst was fürs Auge gönnen. Vorsichtig riskieren wir einen Blick über die Abbruchkante. Wir sind so überwältigt, dass wir gar nicht ans Fotografieren denken. Drei Canyons laufen hier zusammen – die Barranca de Urique, die Barranca del Cobre und die Barranca de Tararecua. Mit 1870 m ist die Barranca de Urique tiefer als der Grand Canyon in der USA. Aber irgendwie sind wir nicht ganz so ‚hin und weg’ wie ein paar Monate zuvor, als wir am South Rim oben in Arazona standen. Vielleicht liegt es daran, dass die Felswände hier nicht so nackt und nicht so steil sind. Oder die Wolken, die sich vor die Sonne schieben, trüben unsere Sicht. Wir sind uns nicht einig. Aber beeindruckt sind wir beide. Das Knurren im Magen treibt uns zurück zu den Ständen. Auf Fladenbrot wird Hühnchenfleisch serviert, darüber eine knallrote Salsa mit viel Chili. Genau das nehmen wir. Es schmeckt hervorragend. Zufrieden kauend schauen wir uns um. Die Farben sind so vielfältig wie die Gerüche. Wir befinden uns im Gebiet der Tarahumara. Bis zuletzt hat sich dieser Volksstamm gegen die koloniale Unterwerfung gewehrt. Es sind friedfertige, zurückhaltende Menschen, die auch heute noch im Einklang mit der Natur leben. Im Sommer hoch oben in den kühlen Bergen, im Winter in den wärmeren Tallagen. Neben ihrer wundeschönen Handarbeit sind sie bekannt für ihre Ausdauer beim Laufen. Ans Fotografieren denken wir immer noch nicht. Denn zugegeben – ein Bild ohne Touristen zu machen, wäre unmöglich.
Endstation
Endstation für uns ist Creel. Der Zug fährt weiter bis Chihuahua. Aber der Rest der Strecke ist nicht mehr so reizvoll. Deshalb halten es viele Besucher so wie wir: In Creel übernachten und nach ein, zwei Tagen wieder mit dem Zug zurück. Sicher ist dieses kleine Städtchen ziemlich touristisch. Aber es gefällt uns trotzdem. In einer kleinen geführten Gruppe dürfen wir uns ein Dorf der Tarahumara anschauen. Eigentlich ist es eine Ansammlung von Höhlen, die wohnlich eingerichtet wurden. Die Frauen tragen bunte, bauschige Röcke aus grobgemusterten, farbenfrohen Stoffen. Zwischen Ziegen und Hühnern spielen Kinder. Ein Geigenbauer erklärt uns seine Arbeit. Die Menschen sind zurückhaltend, aber freundlich. Berühmtheit haben die Tarahumara durchs Laufen erlangt. Ohne Unterbrechung können sie bis zu 170 km die Canyons rauf und runter rennen. Dazu fertigen sie sich in traditioneller Manier Sandalen aus Leder an, bzw. heute immer mehr aus alten Autoreifen.
In den Wolken
Als wir am nächsten Morgen zum Bahnhof kommen, treffe ich meinen kleinen Freund wieder. Seine Mutter schenkt mir ein Lächeln. Ich frage den aufgeweckten Knirps: “Na, warst du auch in den Wolken?“ Begeistert nickt er mit dem Kopf.
Jorge D.R.
Zu dieser Geschichte gibt es ein paar Bilder.
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Fernweh geweckt - so eine Zugfahrt scheint sehr schön zu sein! Sollte ich auch einmal angehen. Die Bilder versprechen eine wilde Romantik ...
AntwortenLöschenHerzliche Grüße,
Ralph
Danke für den interessanten Bericht und die wunderbaren Fotos (ich hab auch dieses Design auf meiner jimdo-page, ja, die Welt ist klein ;) )
AntwortenLöschenHey, Jorge, du Weltenbummler! Du solltest das kultivieren mit deinen Reiseerzählungen und den Fotos. Mir hat es gefallen, wie du mich teilhaben lässt an euren Reisen und den vielen Eindrücken. Eindeutig: MEHR!
AntwortenLöschenLiebe Grüße ins Wochenende hinein - Donna
Oh, ich liebe Reiseberichte, Erinnerungen an ferne Länder und mitgenommen zu werden mit Worten wenigstens, in Gegenden, in die man sicher nie kommen wird.
AntwortenLöschenToll, diese Beschreibungen. Diese faszinierenden Eindrücke, noch dazu so flüssig geschildert. Ganz toll!
AntwortenLöschenLiebe Grüße,
gori
da kommt doch gleich mein fernwehh zutage!
AntwortenLöschenwunderbare beschreibung.
lieben gruß
spini
Sehr präzis und eindrücklich geschildert, deine Himmel- und Höllenfahrt!
AntwortenLöschenDank und liebe Grüsse,
Brigitte
Die Superlative gehen einem von Monat zu Monat mehr aus - Was soll ich sagen!
AntwortenLöschenLieben Dank, dass du mich mitgenommen hast, auf diese spannende Reise!
Liebe Grüße bigi
Oh Mann, da ist sie wieder die bohrende Sehnsucht. Und es ist noch so lang hin bis zum Urlaub. Es gibt so viel zu sehen. Das Leben ist zu kurz. Man verplempert zuviel Zeit mit dem Geldverdienen.
AntwortenLöschenDanke für die kleine Reise ohne Budget.(für uns jedenfalls)
schön war es auf der Reise ;-)Danke!
AntwortenLöschengerne denke ich zurück an meine Reisen in Süd- Ost Asien. So etwas nimmt dir keiner mehr weg.
Liebe Grüße,
Karl