Donnerstag, 3. November 2011

Augenblicke in Amerika

Die Granny
Wer von euch weiß noch, was eine Zigarettenspitze ist? Mich als Nichtraucher hat so ein Ding immer fasziniert. Aber
 ich habe Jahrzehnte lang keine mehr gesehen.

Sie saß vor einer italienischen Espresso Bar in Tucson, Arizona auf einem Barhocker. Neben ihr lehnte ein Krückstock am Tresen. Ihr Kleid war beige, oben in einer Art Halskrause geschlossen und reichte bis zu den Knöcheln. Ihre schmalen Füße steckten in schlichten, flachen, weißen Schuhen und wippten nervös auf und ab. Der überdimensionale, ebenfalls weiße Hut verlieh ihr eine exotische Aura und ließ das Gesicht im Halbschatten. Dennoch dachte ich sofort an Greta Garbo. Ihr Alter schätzte ich auf knapp über sechzig.

Ich musste zu lange gestarrt haben. Denn ihr Blick streifte mich kurz. Dann drehte sie den Kopf zur Seite und zündete sich eine Zigarette an. Wie sie das tat, fesselte mich derart, dass ich sie wieder zu fixieren begann. Da mein kleiner Tisch dicht neben ihr stand, konnte ich die Zigarettenspitze gut erkennen. Sie war etwa zwölf Zentimeter lang, aus Perlmutt mit einem Mundstück aus Holz.

Bedächtig befestige sie die Zigarette. Dann drehte sie sich abrupt zu mir um und sagte: "Hast du Feuer, junger Mann?" Ich war derart überrascht, dass ich froh war, auf einem richtigen Stuhl zu sitzen. Hatte sie junger Mann gesagt? Nachdem ich eine Verneinung gestammelt hatte, kam ein Kommentar über die Männer von heute, an den ich mich nicht mehr erinnere.

Wir kamen ins Gespräch. Eine gebildete Frau mit profunden Kenntnissen insbesondere der jüngeren Geschichte, stellte ich für mich fest. Russischer Abstammung. Mit den Eltern über Paris nach Amerika eingewandert. Es machte Spaß, mit ihr zu reden. Sie musste etwas älter als sechzig sein, dachte ich noch, als ein Frau auf der Bildfläche erschien. Die junge Dame schlenderte auf den Cadillac zu, der direkt vor dem Café stand, und warf ihre Tasche auf die Rücksitzbank.

Das Auto war mir schon aufgefallen. Ältere Cadillacs hatte ich schon gesehen, aber keinen mit einer so riesigen Heckflosse. Meine Gesprächspartnerin sah meinen Blick und stellte technisch nüchtern fest: "Cadillac Biarritz, die Cabrioversion des Eldorado, Modelljahr 1959." Mit einem verschmitzten Lächeln fügte sie hinzu: "Elvis hatte auch so ein Auto" "Den müssten sie doch kennen, junger Mann." Ich nickte heftig. Sie hatte wieder junger Mann gesagt.

Dann griff sie zu der Krücke und begab sich Richtung Auto. Meine Hilfe lehnte sie dankend ab. Etwas traurig darüber, dass das Gespräch zu Ende war, und im Unklaren, wer diese junge Dame war, sagte ich: "Werden sie abgeholt?"

"Ich - abgeholt?" und ihr schelmisches Lächeln machte sie noch jünger. Und weiter: "Das junge Ding da - dabei zeigte sie mit der Krücke auf das Mädchen - ist meine Urenkelin. Ich mache mittwochs den Fahrdienst für sie. Und während sie in der Vorlesung sitzt, trinke ich einen Kaffee auf ihre Kosten. Ist doch recht und billig, stimmt's Cindy?" Bei diesen Worten warf sie die Krücke auf den Rücksitz des Cabrios und glitt elegant hinter das Steuer.

Die junge Frau lies sich auf den Beifahrersitz fallen und wandte sich mit einem verschwörerischen Lächeln mir zu: "Wissen sie, seit meine Granny im letzten Monat 85 geworden ist, wird sie immer knauseriger." Das Lachen der beiden Frauen übertönte das leise Brummen der abfahrenden Limousine.


Jorge D.R.


Unter dem obigen Titel werde ich euch auch in Zukunft ein paar Geschichten erzählen. Randnotizen. Momentaufnahmen aus einem großartigen und zugleich widersprüchlichem Land. Nichts von großer Politik. Kleine Geschichten, aufgelesen vom Straßenrand oder im Starbucks Café. Sie passen nicht zusammen, sind so widersprüchlich wie das Land. Man ist versucht die falschen Schlüsse zu ziehen. Vielleicht sollte man gar keine mehr ziehen. Denn wenn man als Deutscher durch dieses Land reist, ist man immer wieder verblüfft oder beeindruckt, verstört oder begeistert.


7 Kommentare:

  1. Hach - toll!
    Eine Zigarettenspitze, ja die sah ich erst kürzlich. Die Maklerin, die die Wohnung, in der ich bisher wohnte verkaufte, raucht mit Spitze. Aber an die Garbo denke ich dabei nicht - nein so elegant, wie deine beschriebene Dame ist meine Spitzenraucherin nicht. ;-)

    ..grüßt dich Monika

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  2. Ach, ist das schön! So frisch und jung sollte man bleiben!
    Ihre wahre Geschichte ist einfach toll, junger Mann!! :-)

    Gruss, Brigitte

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  3. Unterhaltung pur, lieber Jörg.

    Es ist faszinierend, wie aufmerksam du beobachtest und wie tief du eine unerwartete Situation dieser Art genießen und letztlich (nach) erzählen kannst.
    Diese Reisetagebuchnotiz ist... Siehe Anfang.

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  4. schöne Geschichten bietet Amerika.
    Herzlich

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  5. Ich seh den Film vor mir ablaufen. Mildes Abendlicht. Alles irgendwie milchig. Sogar die Zigarettenspitze in Perlmutt passt dazu. Sowas hatte ich auch mal, als ich noch geraucht habe. Weniger edle Ausführung. War ja auch nur für Karneval. Dazu lange Handschuhe und ein schulterfreies Kleid.

    So eine Lady, wie die von dir beschriebene, möchte ich auch mal werden, wenn ich groß bin. Bisschen Zeit zu üben habe ich noch.

    Grossartig, deine Geschichte. Kein Spruch.

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  6. Eine herrliche Geschichte :-)
    Du bist ja alles andere als auf den Mund gefallen und trotzdem wirkst du ein wenig sprachlos.

    Gute-Nacht-Grüße
    von Anna-Lena

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  7. Erzähnl weiter. Es macht Spaß zu lesen. :-)

    Gruß
    Barbara

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