Samstag, 20. Februar 2010

Die längste Stunde

( Diese Geschichte ist im Rahmen von Donnas Schreibwerkstatt entstanden. )

Sie wusste nicht, wie sie in dieses Zimmer gekommen war.
Ein Zimmer? Ein Zimmer mit einer schrägen Decke? Und wieso war es so finster? Bis auf diesen Lichtstrahl, der irgendwo von vorne links kam, war es dunkel. Sie versuchte den Kopf zu drehen, aber da wurde das Pochen in ihrem Schädel unerträglich. Sie schloss die Augen. Ruhig, dachte sie. Ganz ruhig. Genau wie im Ju-Jutsu, bevor sie einen Kampf begann. Wieso fiel ihr das jetzt ein? Sie versuchte sich zu konzentrieren. Wenn nur dieses Hämmern nicht wäre. Und die Blitze, die vor ihren Augen tanzten. Oder waren das Nordlichter wie damals in Kanada? Die Schlittenkufen knirschten unter ihren Füßen und die eisige Polarnacht spannte sich über sie. Aber was ihr über den Mund lief, schmeckte nach Salz. Und nach Blut. Es war ganz eindeutig Schweiß. Ihr Schweiß. Und es war ganz eindeutig Blut. War es ihr Blut? Wo war sie bloß? Angestrengt versuchte sie, ihre Gedanken zu sammeln. Es war stickig und unerträglich heiß. Als sie die Augen wieder öffnete, war der Lichtstrahl stärker geworden und schärfer. Sie sah die tausend Staubkörner tanzen und hatte immer noch keine Ahnung, wo sie war. Ein Sonnenstrahl, dachte sich noch. Das war ein Sonnenstrahl. Und dann wurde es wieder Nacht um sie herum.

Rolf war unruhig. Er konnte sich ihr Verhalten nicht erklären. Nur noch eine Stunde, dann bin ich hier fertig, hatte Rita noch gesagt. Und dann kein Wort mehr. Sie hatte einfach aufgehängt. Im gleichen Moment gab es zwar noch einen dumpfen Knall, aber der kam von dem uralten Lastwagen direkt vor ihm. Das vermutete Rolf jedenfalls. Schon seit einer Stunde rumpelte dieses vorsintflutliche Gefährt vor ihm her, ohne das er es hätte überholen können. Angestrengt lauschte er auf das Funkgerät, während er den schweren Geländewagen über diese elende Rüttelpiste steuerte. Aber außer Prasseln und Kratzen, wenn sich die Rauschsperre des Gerätes einschaltete, war nichts mehr zu hören. Sie waren auf dem Weg zur Grenze von Haiti. Nur sehr, sehr langsam kamen sie voran. Straße konnte man das hier nicht nennen. Am schlimmsten waren die Teilstücke, die dereinst asphaltiert waren. Auch hier gab es Loch an Loch. Nur das diese Löcher von scharfem, ausgefransten Teerresten eingefasst waren. Tödlich für die Reifen, zumal der Landcruiser total überladen war. Rolf zwang sich, das Gaspedal zurück zu nehmen. Er blinzelte zu Dieter hinüber. Aber der schien tief zu schlafen. Immer wieder faszinierte ihn die Ruhe seines Freundes. Er konnte in jeder Lage schlafen. Schon auf dem Flug nach Santo Domingo, der Hauptstadt der Dominikanischen Republik, hatte er meistens geschlafen. Und jetzt pennte er schon wieder anstatt mit ihm zu quatschen, wie er leicht aggressiv bei sich feststellte. Außerdem war er ziemlich wütend, dass sie diesen Umweg über die Dominikanischen Republik nehmen mussten. Rita hatte mit der Vorhut noch direkt in Port-au-Prince landen können. Seine Freundin war eine gute und beliebte Rettungssanitäterin und ihr Trupp war noch in der Nacht zum Flughafen Frankfurt gefahren. Er hingegen war bei der Hundestaffel und hatte mit Rex auf den nächsten Tag warten müssen. Unter allen Wesen auf vier Beinen war Rex sein bester Freund. Hellwach aber ruhig lag er zwischen all den Kisten und Säcken. Dass Grübeln keinen Sinn macht, wusste Rolf. Die Amerikaner hatten inzwischen die Kontrolle über den Flughafen von Port-au-Prince übernommen und eine Landung ihrer Maschine für frühestens Mittwoch avisiert. Das waren zweiunddreißig verlorene Stunden für die Hunde. So hatten sie kurz entschlossen diesen Umweg über Santo Domingo genommen. Die drei R's fliegen zuerst, hatte der Einsatzleiter gesagt. So wurden sie von allen genannt, nicht nur vom Vorgesetzten. Rolf mochte das nicht so. Und manchmal war es in der Tat ein wenig neckisch gemeint. Aber welch großer Respekt Rita, Rolf und Rex entgegen gebracht wurde, war immer und überall spürbar. Sie waren einfach die Besten. Aber dann war halt doch alles ein wenig anders gekommen. Na ja, sei's drum, diese kurze Trennung würden sie ja wohl überleben, dachte er noch bei sich. Dann kam die Grenze.

Dass dieser Trümmerhaufen, vor dem er jetzt hier stand, einmal eine Schule gewesen war, konnte er nicht glauben. An der Grenze war alles überraschend schnell gegangen und auch die Fahrt bis zur Hauptstadt, oder besser, was von ihr übrig geblieben war, war ohne Probleme verlaufen. Und nun stand er hier an seinem ersten Einsatzort vor einem Trümmerhaufen, wie er sie die letzten zwei Stunden überall gesehen hatte. Vielleicht war ja dieser hier etwas größer als die anderen. Sie waren von den Kanadiern hierher gebeten worden, weil dringend ein Rettungshund benötigt wurde. Es hatte ein schweres Nachbeben gegeben und zwei junge Kanadierinnen, die sich in der vom ersten Beben halb zerstörten Schule um die Kinder bemühten, waren mit verschüttet worden. Die eine hatte sich selbst befreien können, die andere musste noch unter den Trümmern stecken. So lautete jedenfalls die Information. Na ja, ob Haitianerin oder Kanadierin, das war ihm eigentlich gleich. Rolf suchte nach einer Stelle etwas abseits, wo er den Landcruiser parken konnte. Während Dieter schon auf den heftig gestikulierenden Herrn zulief, holte Rolf seinen vierbeinigen Freund von hinten aus dem Auto. Das Tier war wach und ruhig, wie immer bei solchen Einsätzen. Er war stolz darauf, einen so ausgeglichenen Hund zu haben. Und ein exzellenter Spürhund war er sowieso. Die zwei Wettbewerbe im letzten Jahr hatte Rex gewonnen. Auch der lange Flug schien dem Hund nichts ausgemacht zu haben. Und jetzt erst sah er, dass dieser Herr da drüben nicht Dieter gemeint hatte, sondern einen anfliegenden Hubschrauber dirigierte. An vier Seilen hing ein kleiner Bagger. Wie eine Riesenlibelle schwebte der Helikopter der Canadian Air Force über dem Boden. Die kanadischen Pioniere haben schweres Gerät dabei, dachte Rolf noch anerkennend. Es war ein ohrenbetäubender Lärm um ihn herum. Aber Rex war auch das gewohnt. Regungslos verharrte er neben seinem linken Bein, bis der Hubschrauber wieder abdrehte. Und dann ging es los.

Ohne noch einmal mit irgendjemandem zu sprechen, kletterte Rolf hinter Rex her, der konzentriert seine Suche begonnen hatte. Er schaute auf die Uhr. Es waren genau drei Minuten vergangen, als der Hund anschlug. Und wie er anschlug! Lautes Bellen wechselte sich mit Winseln ab. Immer wieder blickte er zu ihm, Rolf, zurück, fing an zu scharren und geriet immer mehr außer sich. Was war nur mit seinem Hund los? Als er dieses sauglatte Betonstück vor ihm endlich überwunden hatte, tätschelte er die Schulter des Tieres und redete beruhigend auf ihn ein. Aber Rex lies sich nicht beruhigen. Das hastige, abgerissene Bellen ging weiter - unterbrochen nur von einem herzzerreißenden Winseln. Daheim würdest du in diesem Moment durch die Prüfung fallen, dachte Rolf noch, und wunderte sich einmal mehr über seinen Hund. Dann begann er, den Bagger zu seiner Position zu dirigieren. Das war nicht einfach. Langsam und vorsichtig begann sein kanadischer Kollege, den Schutt abzutragen. Rolf erkannte sofort, dass der Mann Erfahrung hatte. Endlich war so viel Schutt beiseite geräumt , dass man eine Zwischendecke erkennen konnte, die nur zum Teil eingestürzt war. Eine Art Luftschacht wurde sichtbar, in das Armierungseisen hineinragten. Es dauerte nur Sekunden, bis Rex sich hindurchgezwängt hatte. Und dann begann ein klagendes Winseln, wie es Rolf noch nie von seinem Hund gehört hatte. Jetzt erfasste auch ihn Unruhe. Was zum Teufel war bloß los mit seinem Hund? Sein Kollege hantierte schweigend, schnell und geschickt mit einem schweren Seitenschneider. Im Moment konnte Rolf nichts anders tun als zu warten und versuchen seinen Hund zu beruhigen.

Endlich war die Öffnung breit genug, dass er sich in dieses Verlies hinab lassen konnte. Die Stirnlampe hatte er schon eingeschaltet. Vorsichtig lies er sich auf den Boden gleiten und wandte sich seinem Hund zu. Dann sah er die Frau, halb bedeckt von mehreren großen Steinen. Sie lag regungslos da, aber er merkte dass sie lebte, auch wenn er zunächst nur ihren Hinterkopf sah. Und der war voller Blut. Unter seinen Füßen rutschte das Geröll weg. Vorsichtig versuchte er wieder etwas Höhe zu gewinnen. Er beugte sich über die Frau, um ihr Gesicht zu sehen. Und dann setzte sein Verstand aus. Es war Rita.

Jorge D.R.

19 Kommentare:

  1. Wow, super!
    Ich wußte es, daß es Rita war!
    Sehr gut geschrieben, sehr spannend, danke!

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  2. Was für eine Geschichte...
    Großartig! Vielen Dank!

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  3. Eine Geschichte die unter die Haut geht. Wer kennt sie nicht die Bilder und Nachrichten aus Haiti...
    Herzliche Grüße von Monré

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  4. Eine atemberaubende Geschichte, und so authentsich beschrieben, als ob du das selbst erlebt hättest, Jorge. Ich bin begeistert und beeindruckt. Gratulation!

    Liebe Grüsse,
    Brigitte

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  5. So traurig der Anlass der Geschichte - so supergut war sie zu lesen. Kann ein Hund wirklich schlauer als sein Herrchen sein? - Es ist erstaunlich, wie du immer wieder aus aktuellen Geschehnissen eine spannende Story schreibst.
    Danke von Christine

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  6. Eine tolle Geschichte! (Wenn er den Hund nur nicht "Rex" genannt hätte ;-) ) Spannend, von Anfang bis Ende. Ich war dabei ...
    Herzliche Grüße!

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  7. Lieber Jorge

    Was soll man dazu sagen? Traurige Geschichte sehr gut erzählt.

    Liebe Grüsse
    Brigitte

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  8. eine spannende interessante geschichte. danke dafür.
    lg
    ingrid

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  9. Sehr spannend und nah am Leben.
    Großartig geschrieben.

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  10. Jorge, da ist dir wieder einmal eine spannende und gefühlvolle Geschichte gelungen. Du weißt, wovon du schreibst!! Fast kommt es mir so vor, als seist du dieser Rolf, so authentisch kommt das rüber.
    Vielen lieben Dank für's Mitschreiben.

    Hab ein schönes Wochenende - Donna

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  11. Das ist wirklich eine unglaublich eindringliche Geschichte, die mir sehr nahe gegangen ist.
    Liebe Grüße, Petra

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  12. Klasse, Jorge D.R.!!
    Auch ich war im Geschehen, durch deine Art zu schreiben!

    Hunde sind schon tolle Geschöpfe!!
    Das hast du hier fein vermittelt..
    ..grüßt dich syntaxia

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  13. Sehr spannend, ergreifend und hervorragend geschrieben, lieber Jorge, leider auch aktuell!
    Es kommt einem fast so vor, als ob du da vor Ort recherchiert hättest...

    LG aus dem Norden
    Sabine

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  14. Eine bedrückende, besonders weil so aktuelle, Geschichte. Ich wusste zwar auch, dass es Rita war, die da verschüttet lag, aber das tat der Geschichte keinen Abbruch.

    Hat mir gut gefallen.

    Liebe Grüße,
    gori

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  15. sehr spannend geschrieben
    den Leser fesselnd bis zum Schluss

    nun dein Beitrag zu Donnas Schreibwerkstatt ist dir rundum gelungen

    alles liebe
    Sterntalerchen

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  16. Ach mein guter Jorge,
    *verneig* mal wieder!
    Danke dir!
    Es war mir wieder ein Fest, deine Worte zu verschlingen, einzutauchen in deine Worte.
    Liebe Grüße bigi

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  17. Eine supertolle Geschichte. obwohl sie relativ lang ist, habe ich sie mit atemloser Spannung gelesen, obwohl man als Leser mehr weiß als Rolf. Aktuell ist sie außerdem noch und alles ist sehr anschaulich beschrieben.

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  18. Deine Geschichte gefällt mir sehr gut! Sehr nachvollziehbar, berührend und - wie schon angemerkt wurde - sie wirkt authentisch. Habe ich sehr gern gelesen.

    Liebe Grüße,
    Patricia

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  19. @all
    So viel Begeisterung für diesen Text hatte ich nicht erwartet! Ich bin echt überwältigt und freue mich sehr. Habt alle herzlichen Dank fürs Lesen und für eure Kommentare. Ein besonderes Dankeschön geht an Donna, die sich immer so viel Mühe macht. In ihrem Fahrwasser konnte ich eine wachsende Leserschaft gewinnen. Ach so, was ich auch noch anmerken wollte: Nein, nichts ist authentisch und ich habe auch nicht vor Ort recherchiert.

    Weiterhin viel Spaß beim Schreiben wünscht
    Jorge D.R.

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